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PARALLELWELTEN: EVA & ADELE ZEICHNEN

Lisa Schmidt-Herzog


Bertolt Brecht – Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration

Als er siebzig war und war gebrechlich,
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh’,
Denn die Weisheit war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.

Und er packte ein, was er so brauchte:
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er abends immer rauchte,
Und das Büchlein, das er immer las.
Weißbrot nach dem Augenmaß.

Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es,
als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
Kauend, während er den Alten trug.
Denn dem ging es schnell genug.

Doch am vierten Tag im Felsgesteine
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?” „Keine.”
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach:
„Er hat gelehrt.”
Und so war auch das erklärt.

Doch der Mann in einer heitren Regung
Fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?”
Sprach der Knabe: „Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.”

Daß er nicht das letzte Tageslicht verlöre,
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre.
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie: „He, du! Halt an!”

„Was ist das mit diesem Wasser, Alter?”
Hielt der Alte: „Interessiert es dich?”
Sprach dem Mann: „Ich bin nur Zollverwalter,
Doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich!

Schreib mir’s auf. Diktier es diesem Kinde!
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und und Tinte
Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?”

Über seine Schulter sah der Alte
Auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: „Auch du?”

Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: „Die etwas fragen,
Die verdienen Antwort.” Sprach der Knabe: „Es wird auch schon kalt.”
„Gut, ein kleiner Aufenthalt.”

Und von seinem Ochsen stieg der Weise,
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s so weit.

Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man höflicher sein?

Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,
Dessen Name auf dem Büchlein prangt!
Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.


„Wahrheit gibt es nur zu Zweien.“1 Freundlichkeit und Einsamkeit im Werk (von) EVA & ADELE

EVA & ADELE sind bekannt für ihre Freundlichkeit. Ihr Lächeln ist zum festen Bestandteil der hauseigenen Trade Mark geworden und wer mit ihnen spricht, ist erstaunt über ihre Aufmerksamkeit und das Interesse an ihrem Gegenüber. Fast scheint es, als befände man* sich unter FreundInnen. Doch gerade ihre Freundlichkeit darf nicht mit Freundschaft verwechselt werden. Für Hannah Arendt gilt die Beziehung unter FreundInnen als Blaupause echter Gemeinschaft und damit auch echten politischen Handelns.2 Doch in der Begegnung mit dem KünstlerInnenpaar, das sich einerseits so radikal zum Dialog anbietet und andererseits so radikal entzieht, stellt sich die Frage, ob hier nicht vielmehr Freundlichkeit als tragendes Prinzip der Vergemeinschaftung in Kraft tritt – gerade weil eine Begegnung zwischen den Menschen möglich wird, auch ohne dass diese miteinander befreundet sind. Denn zwischen EVA & ADELE und den anderen – ihrem Publikum – besteht ein Abstand. Die einzelnen Menschen bleiben Einzelne und damit in gewisser Weise einsam. Gleichzeitig können sie nur dort, wo sie einsam sind, z.B. durch eine freundliche Geste, näher zueinander rücken. Die beiden Werkreihen CUM und time traveler, die in KEEP THE ROSY WING STRONG zu sehen sind, machen diese eigentümliche Bewegung zwischen Einzelnem und Anderem erfahrbar, in der Nähe und Abstand – Freundlichkeit und Einsamkeit – einander bedingen wie Tag und Nacht.

Juli, 2021. Ich bin allein nach Athen gereist. Hellas –  der Ort, an dem EVA & ADELE 1989 ihre erste gemeinsame und gleichnamige Arbeit ins Werk gesetzt haben. Athen ist eine Stadt, die ich nie zuvor besucht habe. Es ist ein merkwürdiges Unterfangen, allein zu reisen. Während mir meine eigenen Ängste vor Augen geführt werden, spüre ich die Angewiesenheit auf etwas, das Bertolt Brecht – zuversichtlich wie er war – die „Freundlichkeit der Welt“ nannte. Ich sitze im Restaurant in Exarchia, bekomme einen Raki aufs Haus, weil ich beeindruckend viele Gerichte bestellt habe, und lese Brechts „Legende  von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“. EVA & ADELE haben mir das Gedicht zugesendet und nun reist ein alter Text mit in meinem Gepäck, während ein neuer im Entstehen begriffen ist. Ohne mir dessen anfangs bewusst zu sein, bin ich bereits Teil des CUM-Projekts geworden.3 Für dieses ist immerhin maßgeblich, dass seine Gestaltung nicht allein in den Händen der KünstlerInnen liegt, sondern Resultat von stetiger Interaktion ist. Wenn Arendt davon spricht, dass es Wahrheit nur zu Zweien geben soll, dann stellt sich gerade auf einer allein angetretenen Reise, mit einem Gedicht in der Tasche, die Frage, ob und wie sich nicht eine andere Zweiheit oder ein Miteinander in Abwesenheit denken lässt.


Die Rolle des Publikums

Das lateinische „cum“ ist ein unscheinbares Wort (dt. „mit“). Doch es bezeichnet Fundamentales. Immerhin kündigt sich erst durch das „Mit“ im „Miteinander“ oder auch in der „Mitwelt“ an, dass sich diese Konzepte wesentlich um die Gemeinschaft drehen. Unscheinbar mögen auch die ersten Schritte auf dem Weg in die Werkreihe CUM gewesen sein, die 1997 im Hannoveraner Sprengel Museum ausgestellt wurde und deren radikale Erweiterung 2021 in der Münchener Nicole Gnesa Galerie präsentiert wird.4 Zwar erstreckt sich die groß angelegt Konzeptarbeit über ein massives Konvolut aus Polaroids, auf dem EVA & ADELE mit oder ohne ihr Publikum abgebildet sind, sowie über ein umfassendes zeichnerisches und malerisches Œuvre, das sich diese Fotografien zum Vorbild nimmt. Doch CUM war bereits ins Leben gerufen worden, schon lange bevor Pinsel und Zeichenstift überhaupt ein Blatt berührten, und es reicht noch lange über den Zeitpunkt hinaus, da die Ausstellung KEEP THE ROSY WING STRONG ihre Pforten schließen wird. Immerhin besteht die Ausgangslage des Projekts in einer grundlegenden Kommunikationsleistung zwischen den KünstlerInnen und ihrer Mitwelt, die auch an den Grenzen eines geschlossenen, materiellen Werks nicht Halt macht.

Denn wer EVA & ADELE vor die Linse bekommen möchte, muss auf sie zugehen und um Erlaubnis bitten. Doch auch umgekehrt stellen die beiden immer wieder ein und dieselbe Bitte an ihr Gegenüber. Auch sie wollen das fotografische Bilddokument aufbewahren und bitten um die Zusendung eines zweiten Abzugs. Spricht man* von einem Begriff wie „Abzug“, stellt sich ein Bewusstsein davon ein, dass das Werk (von) EVA & ADELE5 mit der Zeitgeschichte wandert, da sich hier der Übergang von einer analogen in eine digitale Bildkultur manifestiert. Nur unter der Bedingung, dass ihnen umgehend das zweite Polaroid ausgehändigt werde, erlaubten die „hermaphroditen Zwillinge“ seit Beginn ihrer Karriere, abgelichtet zu werden. Heute ist das Polaroid dem Smartphone-Foto gewichen, das an die E-Mail-Adresse der KünstlerInnen geht. Nicht verändert hat sich jedoch die Aufforderung, dass das Bild den Ort der Aufnahme enthalten soll sowie die Signatur der Fotografierenden. Wenn EVA & ADELE aus den Schnappschüssen Zeichnungen und Malereien anfertigen (die sogenannten Blow-ups), werden diese mit ihrem ikonischen Herzkopfstempel markiert. Er zeichnet sie nicht nur als Teil der Werkreihe aus, sondern hält auch Ort und Initialen der Beteiligten für spätere BetrachterInnen sichtbar.

Es mag paradox anmuten, dass gerade ein Œuvre, welches so selbstbezüglich erscheint (immerhin sind die Gesichter der KünstlerInnen unangefochtener Mittelpunkt ihrer gesamten Bilderwelt), maßgeblich von der dialogischen Kommunikation lebt. Das Publikum besteht nicht bloß aus passiven EmpfängerInnen, sondern es hinterlässt Spuren. Dies wird bereits daran ersichtlich, wie die KünstlerInnen von den die Begegnungen, Gesprächen und Zusendungen sprechen. Häufig erinnern sie sich an die Namen der Menschen, an ihre Berufe und an Anekdoten, und teilen diese später mit anderen (sofern sie zum Teilen bestimmt sind). So wie der Herzkopfstempel die Initialen der Beteiligten aufbewahrt, so bewahrt das Gespräch ihre Geschichten auf. Materieller und immaterieller Werkcharakter greifen untrennbar ineinander. Auch dass Brecht und Laotse nun mit mir nach Athen reisen, geht auf eine solche Vorgeschichte zurück. Denn bei dem Gedicht handelt es sich um die Zusendung einer Sinologin, die allein durch diesen kommunikativen Akt eine Parallele zwischen Laotses Lehre und dem künstlerischen Werk (von) EVA & ADELE assoziiert. Ohne diese GesprächspartnerInnen und die Anstöße, die sie geben, entsteht kein Werk. CUM gab und gibt es nur cum Publikum.


Die Zweckfreiheit von Laotses Lehre

Im Gedicht lesen wird, dass Laotse auf seiner Reise von einem Zöllner angehalten wird. Dieser ist selbst kein weiser Mann, doch er scheint ein Gespür dafür zu haben, wann die Weisheit spricht. Denn er bittet den alten Meister darum, für eine Weile sein Gast zu sein und während dieser Zeit schreibt Laotse nieder, was später zum wichtigsten Buch im Daoismus werden soll. In einem kurzen Kommentar zum Gedicht seines Freundes weist Walter Benjamin auf die außerordentliche Rolle der Freundlichkeit in Brechts Erzählung hin.6 Dass jede Zeile von ihr durchwirkt ist, wird augenscheinlich, wenn man* bedenkt, wie wenig selbstverständlich sowohl die Bitte des Zöllners wie auch Laotses Einwilligung in diese sind. Immerhin ist er ein alter Mann und wenn im Lande „die Bosheit an Kräften wieder einmal zu[nahm]“, so wäre es nur nachvollziehbar, die eigenen Kräfte am Ende des Lebens kompromisslos zu schonen. Nicht unwahrscheinlich, dass die Reise in die Emigration seine letzte sein wird. Doch auch wenn der Alte seine Mitwelt von nun an sich selbst überlassen könnte, wendet er sich nicht von ihr ab. Vielmehr lässt er sich willens für eine Weile vom Weg abbringen, um die 81 Sprüche niederzuschreiben, die sein Knabe nach sieben Tagen aushändigen wird.

Was hat Laotse davon? Der Mann sagt, er sei „nur“ ein Zollverwalter und dies wird er wohl auch bleiben. „Kein Sieger trat da auf ihn zu“, kein spiritueller Gefährte, kein Gefolgsmann, kein aufstrebender Schüler voller Potenzial, in dem das Wissen des Weisen fachgerechte Aufbewahrung fände. Man* mag sich also fragen, ob Laotse nicht Perlen vor die Säue wirft. Tatsächlich ist es zweifelhaft, ob sich die ganze Unternehmung für ihn in zweckrationaler Hinsicht überhaupt lohnt. Doch aus einer Bemerkung seines Knaben lesen wir, dass sich das Lohnenswerte am Schreiben des Taoteking nicht in ökonomischer, materieller oder in überhaupt irgendwie verdinglichter Entlohnung bemisst. Laotse selbst hat keine Kostbarkeiten zu verzollen, denn: „Er hat gelehrt.“ Und dies war dem Lehrer genug, schließlich liegt das, was aus der Lehre einmal erwachsen wird, ohnehin im Dunkeln. Diejenigen, die lehren, können nie auf eindeutige Ergebnisse ihrer Lehre hoffen, nicht auf die Gründung einer Denkschule, nicht auf die Ausbildung genialer Köpfe, die sich später einmal dankend auf die Klugheit ihrer MeisterInnen zurückbeziehen.7 Gerade weil all dies ungewiss bleibt, ist es die radikale Zweckfreiheit der Lehre, in der ihr ureigener Selbstzweck besteht. Der Vergleich zwischen Laotses Lehre und dem Werk (von) EVA & ADELE muss nicht so wörtlich genommen werden, dass man* die beiden zu spirituellen MeisterInnen macht. Doch wenn Laotses Wirken nicht darin besteht, seine SchülerInnen auf ein klar definiertes Ergebnis zu trimmen, dann liegt der Gedanke nicht allzu fern, dass es eine Ähnlichkeit gibt zwischen der Lehre und der Freundlichkeit, die beide eines äußeren Zwecks entbehren


Wandel des Werks gegen Selbsthistorisierung

So wie die Lehre und die Freundlichkeit entzieht sich auch der künstlerische Prozess von EVA & ADELE allen etwaigen Erwartungen an dessen Resultate. Im Atelier übersetzen sie die Zusendungen in das eigene künstlerische Medium und verwandeln die Personen in den Fotos in Figuren auf Leinwand und Büttenpapier. Oder auch nicht – denn die Entscheidung, ob und wie ein solcher Transfer stattfindet, liegt allein bei den KünstlerInnen und angesichts der gegebenen Masse an Zusendungen müssen die meisten Fotos zwangsläufig unbearbeitet im Archiv liegen bleiben. Man* könnte vermuten, dass diejenigen Aufnahmen, die es in das künstlerische Werk schaffen, Orte zeigen, die bereits besonders eng mit der Kunstwelt assoziiert sind wie z.B. Galerieeröffnungen, Museumsbesuche oder öffentliche Performances. Tatsächlich haben diese jedoch keinerlei Vorrang gegenüber alltäglichen Motiven und so hält ein Großzietener Bauernhof Einzug in CUM und time traveler, genauso wie der Flughafen in Chicago oder Kassels Innenstadt (wenn gerade nicht documenta ist, wohlgemerkt).

Das kreative Moment dieser Auswahl- und Übersetzungsprozesse überholt bei EVA & ADELE jeden etwaigen dokumentarischen Anspruch an die Bilder. Weder sind die Fotografien dazu in der Lage, vergangene Ursprungssituationen auf Film zu bannen noch handelt es sich bei den Malereien und Zeichnungen um schlichte Reproduktionen der Fotografien. Wenn hier also von „Übersetzung“ vom einen Medium in ein anderes die Rede ist, dann nur unter der Voraussetzung, dass es so etwas wie Übersetzungen streng genommen gar nicht gibt. Der Philosoph Bernhard Waldenfels gibt daher zu denken, das Paradox des kreativen Ausdrucks liege darin, dass es sich hierbei um so etwas wie eine „Übersetzung ohne Urtext“ handelt. Denn „was zum Ausdruck kommt, ist nirgends anders zu fassen als in der Ausdruckstätigkeit selbst.“ Wenn er mit Blick auf die Malerei analog von einem „Abmalen ohne Urbild“ spricht, „bei dem etwas ins Bild [kommt], ohne dass es anders zu fassen ist als im Bild“8, dann zeigt sich, dass dies offenbar auch für die Zeichnungen und Malereien von EVA & ADELE gilt, die ja zumindest insofern auf Urbildern beruhen, als ihnen Fotografien vorausgehen. Doch ganz gleich, ob ein Transfer in eine andere Sprache oder in ein anderes Medium stattfindet: Im Prozess der Übersetzung verändert sich der Inhalt dessen, was übersetzt wird. „Das Bild selbst arbeitet“, sagen EVA & ADELE.

Und gerade, weil es arbeitet, halten sich Strich- und Pinselführung nicht an naturgetreue Nachahmung. CUM und time traveler erinnern teils an die Skizzen eines Drehbuchs oder an eine wortlose Graphic Novel. Mal treten die schwarz-weißen Konturen gestochen scharf hervor, mal lösen sie sich beinahe auf. Mal werden die Menschen zur gesichtslosen Masse, die hinter aquarelliertem Scheinwerferlicht verschwindet, mal wird ein Pferd zum Protagonisten des Bildes. Die kreative Eigenmacht des Übersetzungsprozesses tritt gerade in der Ausstellung KEEP THE ROSY WING STRONG offen zutage. Denn ursprünglich waren die 1998 entstandenen Werke ins hauseigene Archiv gewandert, doch nachdem Eva genügend Überzeugungsarbeit geleistet hatte, begannen die KünstlerInnen 2008 mit der Überarbeitung der Papierarbeiten und schließlich 2018 mit den Leinwänden. Adele war anfangs skeptisch – unsicher, ob das historische Material durch den erneuten Eingriff nicht unzulässig verzerrt würde. Doch in München zeigt sich, dass diese Unsicherheit bald einer gnadenlosen Lust am Experiment gewichen ist. Die Arbeiten, die einst in Graphit und blauer Tinte gehalten waren, greifen nun die künstlerische Entwicklung der letzten Jahre auf, in denen EVA & ADELE immer farbiger, expressiver und abstrakter geworden sind. Sowohl die historische als auch ästhetische Verzerrung wird in der Nicole Gnesa Galerie nun als konstitutives Gestaltungselement ausgestellt. Die gezeigten Arbeiten wären somit nicht als Dokumentation eines in sich abgeschlossenen, historischen Materials zu verstehen. Vielmehr bilden sie einen stetigen Wandel ab, der mitunter sogar undokumentierbar ist. Damit wäre die Neuübersetzung von CUM und time traveler gleichzeitig Ausdruck einer Versuchung wie auch einer Weigerung, sich selbst zu historisieren.


Was begehren wir am Bild? Oder: FUTURING statt Othering

Häufig erinnern die Bilder an Urlaubsfotos, die dem völligen Zufall zu verdanken sind. Die Motivation zur Momentaufnahme entspringt dann zumeist dem Staunen über die eindrückliche Zwillingserscheinung, über ihre perfekt komponierte Garderobe, ihre akkurat geschorenen Schädel und ihr stetes Lächeln. Doch nicht jedes Foto ist das Resultat einer zufälligen Begegnung zwischen Fremden, irgendwo zwischen Tür und Angel oder Rastplatz und Broadway. Manchmal reisen Menschen zu einem angekündigten Event, weil sie EVA & ADELE endlich einmal persönlich treffen wollen:

„Dear Eva and Adele,
It was an absolute pleasure and honour to meet you at your exhibition last month. Thank your for your time, kindness and years of major inspiration. I discovered one of your postcards in New York City in 1998 and had it on my bedroom wall ever since. You have been the guiding stars of my own gender journey.“

Diese Zeilen schreibt z.B. die junge Amerikanerin Joie, die sich 2018 in einen New Yorker Flieger setzte, um die Schau L’Amour du Risque zu sehen (me Collectors Room, Berlin). Als das entsprechende Foto mit ihr geschossen wurde, war für sie wohl weniger interessant, dass sie sich gerade mit zwei erfolgreichen AkteurInnen der Gegenwartskunst ablichten ließ. Vielmehr konnte die eigene Erfahrung von emotionaler Verbundenheit endlich Ausdruck in einem Bild finden. Das Foto ist Zeugnis einer Kommunikation, die schon begonnen hat, noch bevor die GesprächspartnerInnen das Wort überhaupt aneinander richten konnten. Wer die beiden vor die Linse holt, interessiert sich unter Umständen nicht einmal für Kunst – oder für das, was klassischer Weise als Kunst gilt. Mitunter bedeutet diese andere Ebene den Menschen viel mehr – und wird gerade deshalb zu Kunst, wie EVA & ADELE sie verstehen.

Doch die Kehrseite eines solchen Bildbegehrens liegt darin, dass es nicht immer der kommunikative Akt ist, der begehrt wird. Zur Kamera wird ebenso aus Schaulust gegriffen, denn auch der Hunger auf Kuriosität und Attraktion verleitet dazu, das schräge Duo im Bild verewigen zu wollen. Wenn FotografInnen in solchen Fällen agieren, als ginge es um die Dokumentation zweier Objekte, anstatt um das Porträt zweier Menschen, kann es offensichtlich nicht zur echten Begegnung zwischen den Beteiligten kommen. Die Freundlichkeit, die EVA & ADELE in diesen Fällen entgegengebracht wird, ist dann eine, die man* kaum ertragen kann, da sie unmittelbar aus der Freude an der Fetischisierung des Gegenübers resultiert. Die Fotos, die hieraus hervorgehen, werden, wenn sie später am heimischen Kühlschrank pappen, zum bildmanifesten Othering. Zwar könnten sich die KünstlerInnen verweigern, wenn sie eine derartige Motivation hinter dem Bildbegehren vermuten. Tun sie aber nicht. Auch dort, wo die echte Begegnung auf den ersten Blick ausbleibt, geben sie der Bitte ihres Gegenübers statt. Brecht lässt seinen Laotse lehren, „daß das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.” Und Benjamin fügt hinzu: „Wer das Harte zum Unterliegen bringen will, der soll keine Gelegenheit zum Freundlichsein vorbeigehen lassen.“9 So setzen EVA & ADELE darauf, dass ihr ins Bild gebanntes Lächeln mehr bewirkt als die Verweigerung, deren Resultat immer wäre, dass es 1. kein Bild gäbe, und dass dieses somit 2. nicht durch die Zeit reisen könnte.

Doch gerade diese beiden Momente nehmen im Werk (von) EVA & ADELE eine besondere Funktion ein, da mit ihnen jene unwahrscheinliche Möglichkeit offengehalten wird, dass eine Kommunikation auch nach anfänglichem Scheitern doch noch gelingt, selbst wenn die Beteiligten gar nicht mehr anwesend sind. So lautet eine Zuschrift: „Bevor ich mit Ihnen gesprochen habe, habe ich Sie total abgelehnt. Ich bin froh, daß Sie mich über meine Vorurteile und meine eigene Oberflächlichkeit belehrt haben. Sie sind zwei feine Seelen.“ Eine andere Anekdote erzählt von einem jungen, gut betuchten Vater, der einst um ein Foto von EVA & ADELE mit seiner kleinen Tochter bat, um im Anschluss ein Blow-up in Auftrag zu geben. Zwar folgte er damit der alten Familientradition, den Nachwuchs in Porträtmalerei verewigen zu lassen, allerdings gab es zwei Tanten, die sich bei jedem Besuch fragten, was denn die Glatzköpfe auf dem Bild verloren hätten. Doch allein weil dieses seit nunmehr 23 Jahren unverändert im Esszimmer hängt, stellt es eine Faktizität her, mit der sich die BetrachterInnen auseinandersetzen müssen, ob sie wollen oder nicht. Seine schiere Existenz verändert etwas. Vielleicht haben sich die zwei Damen gefragt, warum zwei Glatzköpfen sie überhaupt so irritieren können, vielleicht haben sie protestiert, vielleicht haben sie diese Realität irgendwann einfach angenommen. Für EVA & ADELE müssen nicht alle BetrachterInnen Gleichgesinnte sein. Ihnen ist die Beständigkeit des Bildes wichtiger. Nach mehr als 30 Jahren Bilderreise lautet ihre Antwort auf jedes objektifizierende Bildbegehren daher: Futuring statt Othering.


When Two Become One oder doch nicht

Es erscheint paradox, dass gerade solch ein Manöver gegen fetischisierendes Othering nur dann gelingen kann, wenn die Anderen als Andere – d.h. als ursprünglich other – markiert bleiben. In Brechts Gedicht „erfährt man über die Freundlichkeit, daß sie den Abstand zwischen den Menschen nicht aufhebt, sondern lebendig hält“10, und eben diese Erfahrung machen auch diejenigen, die sich gemeinsam mit EVA & ADELE ablichten lassen. Fast nie steht eine Person in den Fotos zwischen den beiden. Sollte dies doch einmal vorkommen, halten sie sich zumindest an den Händen und signalisieren hierdurch ihre quasi-monolithische Verbindung, die dem Eindringen eines fremden Bildelements (dem Publikum) indifferent gegenüber bleibt. Immerhin hat sich die dritte Person zuvor selbst eingeladen und auch wenn sie herzlich empfangen wird, so bedeutet dies nicht, dass ihr hiermit erlaubt wäre, das Foto zu dominieren. Im Gedicht beantwortet Laotse die Bitte des Zöllners, indem er einige Tage bei ihm bleibt und sich in die ihm gestellte Aufgabe versenkt. Doch macht er sich seinem Gastgeber nicht völlig verfügbar. Er entzieht sich dem Zugriff des Zöllners und greift auch selbst nicht auf diesen zu. Er hat keinen messianischen Ehrgeiz, lässt sich und sein Wissen aber auch nicht instrumentalisieren. „Nachdem der Weise so Großes für den Zöllner getan hat, hat er wenig mehr mit dem Zöllner zu tun, und nicht er übergibt ihm die einundachtzig Sprüche, sondern sein Knabe tut es.“11 Dass Laotse seiner Mitwelt freundlich verbunden ist, drückt sich offenbar gar nicht darin aus, ob er mit dieser interagiert oder nicht. Brechts Zöllner muss aushalten, dass er keinen Einfluss ausüben und dass sein Wissensdurst von Laotse nicht abschließend gestillt werden kann.

Auch das Publikum von EVA & ADELE muss aushalten, dass seinem Bildbegehren Grenzen gesetzt sind. Denn eine Erlaubnis (egal wofür) ist ein kostbares Geschenk – auch dann, wenn die Beschenkten selbst vorher um dieses gebeten haben. So dürften Dritte nie derart in die Inszenierung eingreifen, dass die optische Einheit der KünstlerInnen aufgelöst würde. Der freundliche Abstand zwischen den Menschen geht mit jener Autonomie einher, die EVA & ADELE sich bewahren, wenn sie sich an den Händen halten, wenn sie entscheiden, welche Fotos zu Blow-ups werden, und wenn sie an der konkreten Umsetzung dieser Entscheidung arbeiten.12 Gerade die in München gezeigten Arbeiten führen dies in aller Deutlichkeit vor Augen, da sie teils enorm überarbeitet wurden. Nicht nur sind ehemals dunkle Konturen nun von bunten Farbschichten überlagert, es wurden sogar ganze Figuren übermalt und damit nonchalant aus dem Bild geworfen.

Doch so wie ein Abstand zwischen EVA & ADELE und ihrem Publikum besteht, so bleibt auch ein Abstand zwischen EVA und ADELE bestehen. Es ist ein großes Missverständnis von der romantischen Liebe, dass sie keinen Platz mehr zwischen den Liebenden lasse, weil in der harmonischen Verschmelzung keine Notwendigkeit mehr für diesen Abstand bestehe. Konflikte und Schmerzerfahrungen werden damit prophylaktisch ausgeblendet, wenn Partnerschaft als Zustand eines blinden Totalverstehens imaginiert wird.13 Hiergegen rebelliert die Schriftstellerin Undine Gruenter, wenn sie schreibt: „Wer die Liebe ohne Schmerz will, der will die Liebe selbst nicht“14, und es muss eingeräumt werden, dass dies wohl nicht nur für die romantische Liebe gilt. Es ist bemerkenswert, dass EVA & ADELE im Laufe ihrer Karriere von der Rezeption nicht nur als Liebespaar aufgefasst, sondern ebenso in andere Rollen gesteckt wurde: die Zwillinge, die DoppelgängerInnen, die Klone – allesamt Zweierfiguren, die ein eigentümliches In-eins-Fallen im Sinne einer absoluten Symbiose suggerieren.15 Doch EVA & ADELE scheuen den Schmerz nicht. Denn bei aller optischer Gleichheit kommt es nie zur Verschmelzung in Eins. Tatsächlich werden die beiden laut eigenen Auskünften sogar immer eigener – und trotz ihres gemeinsamen Werkes ist dieses von zwei autonomen KünstlerInnen geschaffen. So wie jede Gemeinschaft wenigstens Zweisamkeit voraussetzt, so setzt auch die Zweisamkeit voraus, dass die Einzelnen je eins bleiben – einsam. EVA & ADELE verwachsen weder mit ihrem Publikum noch miteinander.


Das Dogma der Bekanntheit

Daher gibt es eine besondere Erfahrung mit dem Motiv der Grenze, die die BetrachterInnen machen: Grenzen werden eingerissen und gleichzeitig gewahrt. Wir wissen nicht, wer oder wo sie vor 1990 waren –  jenes Jahr, in dem sie zum ersten Mal als gemeinsame Figur auf die Bühne der Kunstwelt traten.16 Keine lebensbiografischen Daten wie Geburts- oder Ausbildungsorte dringen an die Öffentlichkeit. Nichts wird uns an die Hand gegeben, wodurch einzuordnen wäre, wen man* da vor sich hat und was man* da sieht; nichts, wodurch wir die Menschen „hinter“ Make-up und Kostüm vermeintlich besser kennenlernten. Doch es stellt sich die Frage, von welchem Kennen überhaupt die Rede ist, wenn ein Mensch bloß über die objektiven Daten seiner Biografie gekannt wird. Tatsächlich müsste dies sogar implizieren, dass sich die Qualität des Kennens an der Quantität der vorhandenen Daten bemessen ließe: Wer im Besitz der meisten Daten über einen Menschen wäre, würde ihn dementsprechend am besten kennen. Doch entspricht eine solche Haltung vor allem dem hilflosen Versuch, sich irgendwie Gewissheit über ein Gegenüber zu verschaffen, das sich solchem Zugriff doch immer entzieht. Häufig lesen wir in Texten über EVA & ADELE, dass sich diese zwar als geschlechtslos, zweigeschlechtlich oder als über Geschlechtlichkeit hinausgehend präsentieren, dass letztlich aber eine der beiden als anatomische, biologische und somit als eigentliche Frau erkennbar bliebe, die andere als ebenso eigentlicher Mann – auch wenn Eva bemerkt, nie auch nur „so etwas ähnliches wie ein Mann gewesen zu sein.“17 So wie die biografischen Lebensdaten wird auch eine geschlechtliche Eigentlichkeitsvorstellung herangezogen, um einen Menschen doch noch in einer vermeintlichen Eindeutigkeit greifbar werden zu lassen.

„Sie sind vorhanden, aber nicht bekannt“, schreibt hingegen Ulrich Krempel über EVA & ADELE. Gerade in ihrem reinen Vorhandensein zeigt sich, wie das Wahren der einen Grenze zum Überschreiten einer anderen führt. Denn trotz des Entzugs aller objektiven Daten präsentieren sich dem Publikum keine zwei Fakes, die hinter der Maske ihrer gemeinsamen Kunstfigur alles Menschliche versteckten, bis es abends nach Hause und damit aus der Kostümierung geht. Make-up, Robe und Schmuck haben in der Kunstgeschichte seit Langem den Ruf, eine wie auch immer geartete Wahrheit zu verbergen, die sich hinter solch materiellem Ornament verstecke. Eine besondere Dimension erhält diese Vorstellung mit Blick auf das Verhältnis von SchauspielerIn und jener Figur, die er/sie mimt. Immerhin wird hier der Körper selbst zum Werkstoff der Performance. Gerade EVA & ADELE stellen vor die Frage, ob sie nicht das vermeintlich Verborgene mit jener Materialität zusammenfallen lassen, die sie selbst sind. Denn wie sollte ihr Werk verstanden werden ohne ihre konkrete, leibliche Erscheinung, zu der nicht nur der biologische Körper zählt, sondern auch die Art und Weise, wie dieser gekleidet ist?

Hinter verschlossenen Türen mag das Kostüm auch bei EVA & ADELE gegen rosa Morgenröcke eingetauscht werden. Doch die künstlerische Arbeit ist kein Brotberuf, bei dem die Kundschaft nach Feierabend nicht mehr interessiert. Gerade deshalb ist das Publikum keine Kundschaft und die Performance dauert 24 Stunden. Und so wie Laotse nichts mit seiner Mitwelt zu tun haben muss, um in ihr zu wirken, so müssen EVA & ADELE nicht bekannt sein, um in eine ursprüngliche Kommunikation mit einer/m anderen zu treten. Ein Miteinander kann sich auch dort vollziehen, wo nicht gewusst wird, wie das Gegenüber „ungeschminkt“ aussieht oder „ganz privat“ ist (um einmal boulevardesk zu sprechen). Während die KünstlerInnen also durchaus Grenzen gesellschaftlicher Gender-Normen ausloten, so findet doch keine Auflösung sämtlicher Grenzen zwischen Bekanntem und Fremden, Innen und Außen, zwischen EVA, ADELE und ihrem Publikum statt. Indem sie gegen das Dogma der Bekanntheit rebellieren, arbeiten sie aktiv gegen die Illusion des In-eins-Fallens.

CUM: Die Wahrheit der Pluralität

Wenn Arendt die Freundschaft als Modell beschreibt, an dem sich echtes politisches Miteinander verstehen lässt, dann grenzt sie dieses von anderen Gemeinschaftsformen ab, die ebenso exemplarisch herangezogen werden könnten – allen voran die Familie. Ihrer Auffassung nach wird der Zusammenhalt im Familienverbund durch naturhafte Begründungszusammenhänge wie der Blutsverwandtschaft gerechtfertigt. Das Verbindende zwischen den einzelnen Mitgliedern bestehe in diesem Fall nicht in ihrer Verschiedenheit, sondern vielmehr darin, dass sie aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass all diejenigen, denen das Privileg der Gleichheit nicht zukommt, von einer Gemeinschaft nach diesem Vorbild ausgeschlossen wären. Wenn wir uns fragen, mit welchen Menschen und Gruppen wir solidarisch sind, d.h. mit wem wir in ein politisches Miteinander treten, dann zeigt sich, dass das Dogma der Bekanntheit ähnlich wie die familiäre Ausschlusslogik wirkt. Beide können verhindern, an der Lebensrealität derjenigen teilzunehmen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören – ob sich diese nun über ein geteiltes Erbgut konstituiert oder darüber, dass man* sich kennt. So kam es bereits vor, dass cis-heterosexuelle AusstellungsmacherInnen die Arbeit mit EVA & ADELE ablehnten, weil es als anstößig empfunden wurde, sich als nicht-queere Personen mit queerer Lebensrealität auseinanderzusetzen. Dann werden Solidarität und Gemeinschaftssinn zu Qualitäten, die nur unter denjenigen legitim sind, die einander gleichen und identische Erfahrungen teilen.

EVA & ADELE sind nicht unsere FreundInnen. An solche stellen wir für gewöhnlich den Anspruch, dass sie nicht bloß vorhanden seien, sondern ebenso bekannt, Angehörige der eigenen Gruppe. Damit bleibt die Freundschaft an die konkrete Figur des Freundes oder der Freundin gebunden, während die Freundlichkeit eine Erfahrung ist, die sich viel a-personaler denken lässt. Wenn Fremde zueinander freundlich sind, weil hierin ein Selbstzweck besteht, dann müssen sie sich hierfür weder kennen noch derselben Gruppe angehören. Die Akzentverschiebung von der Freundschaft hin zu Freundlichkeit wird bedeutsam mit Blick auf die besondere Verbindung zwischen EVA & ADELE und ihrem Publikum. Die Beteiligten machen sich einander nie vollkommen verfügbar. Sie wagen sich in echte Begegnungen, doch bedeutet dies nicht, dass sie von nun an sonntägliche Telefonate abhielten. Wenn die Freundlichkeit den Abstand zwischen den Menschen, von dem Benjamin spricht, lebendig hält, dann bedeutet dies auch, dass ihre Zeichen den Moment überdauern, in dem sie gegenwärtig und sichtbar sind. Wo sich die Menschen begegnen, da trennen sie sich wieder, um in die Einsamkeit zu gehen. Sie fallen gerade nicht in eins, sondern erinnern sich daran, dass die Anderen immer anders bleiben und dass gerade deshalb Abstand und Gemeinschaft zwischen den Menschen überhaupt möglich sind. „Wahrheit gibt es nur zu Zweien.“ Doch Freundlichkeit und Einsamkeit lehren, dass hier unter den Begriff der „Zwei“ all jene Konstellationen fallen, in denen dialogische Kommunikation stattfindet – nicht nur die freundschaftlichen oder romantischen. Letztlich müsste „zwei“ hier als Metapher verstanden werden, denn nicht nur die zählbare Zweierunion ist gemeint, sondern die Pluralität unter den Menschen schlechthin. Das Werk (von) EVA & ADELE führt vor Augen, dass das Sinnbild für ein gemeinschaftliches Miteinander – eine Mitwelt – nicht in der verschmolzenen Paarformation liegt. Vielmehr gibt es Gemeinschaft nur in der Vielfalt: cum EVA, cum ADELE und cum Publikum.


1 Arendt, Hannah. Wahrheit gibt es nur zu Zweien. Briefe an die Freunde. München: Piper, 2013.
2 Vgl. Arendt, Hannah. Philosophy and Politics. Social Research, 57 (1990).
3 Auch wenn die aktuelle Ausstellung KEEP THE ROSY WING STRONG suggeriert, dass die Arbeit mit dieser Schau zu einem Abschluss gekommen sei. Doch offenbar liegt es im Wesen dessen, was Paolo Bianchi als „Lebenskunstwerk“ beschreibt, dass es für Werk und Leben keine fixierten Anfangs- und Endpunkte gibt, abseits von Geburt und Tod. Bianchi, Paolo. Lebenskunst: Gastarbeit zwischen Kunst und Leben. In: Kunstforum International, Bd. 142 (Okt.-Dez. 1998).

4 In Hannover wurden sämtliche Arbeiten im Anschluss an die Ausstellung verkauft. Die in München ausgestellten Malereien und Zeichnungen entstanden allesamt 1998 im Stil der ursprünglichen CUM-Reihe, doch sie werden heute zwei unterschiedlichen Werkreihen zugeordnet: 19 Leinwände, die teilweise 2000 in der Galerie Jérôme de Noirmont (Paris) gezeigt und 2018 überarbeitet wurden (diese sind als „time traveler…“ betitelt) und 19 Gouachen, die 2008 im Lentos Kunstmuseum Linz zu sehen waren und sogar im gleichen Jahr überarbeitet wurden (die Werktitel lauten stets „CUM…“).
5 Wenn Bianchi vom „Lebenskunstwerk“ spricht, dass EVA & ADELE nicht nur erschaffen, sondern immer schon sind, dann soll sich diese Eigentümlichkeit im Folgenden in der Verwendung der Klammern widerspiegeln, denn stets ist hier die Rede vom „Werk (von) EVA & ADELE“.
6 Benjamin, Walter. Versuche über Brecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1967, S.81.
7 Dem Zöllner zu unterstellen, dass er trotz seines spirituellen Interesses keinen spirituellen Weg mehr einschlagen und damit zum Schüler werden könne, würde daher von einer gewissen Arroganz zeugen. Denn was unterscheidet den Zöllner, der seine naive Neugier bekundet, von einem Schüler, der noch nicht in den Status der SchülerInennschaft eingetreten ist? Die Voraussetzung dafür, SchülerIn werden zu können, ist, dass man* noch nicht SchülerIn ist.
8 Waldenfels, Bernhard. „Bildhaftes Sehen. Merleau-Ponty auf den Spuren der Malerei.“ In Kapust, Antje und Bernhard Waldenfels (Hrsg.). Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick. Merleau-Ponty zum Hundertsten. München: Wilhelm Fink Verlag, 2010, S.46
9 Benjamin, Walter. Versuche über Brecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1967, S.83.
10 A.a.O., S.82.
11 Ebd.
12 Wenn hier allerdings von „Autonomie“ die Rede ist, dann zielt diese nicht auf jenen klassischen Autonomiebegriff ab, wie ihn die ästhetische Theorie für die Figur des Genies prägte. Das Werk (von) EVA & ADELE negiert sein Außen nicht, sondern nur indem es mit diesem im Dialog steht, kann es überhaupt einen eigenen Standpunkt beziehen. Damit scheinen die KünstlerInnen auch Kinder ihrer Zeit zu sein, lässt sich doch gerade mit Blick auf das Berlin der 1990er ein verändertes Verhältnis von Autonomie und Funktionalisierung von Kunst beobachten. Vgl. Hauser, Susanne und Judith Siegmund. Neuverhandlungen von Kunst: Diskurse und Praktiken seit 1990 am Beispiel Berlin. Bielefeld: transcript, 2020.
13 Vgl. Becker, Frank und Elke Reinhardt-Becker. Semantiken der Liebe zwischen Kontinuität und Wandel – eine Skizze. In Becker, Frank und Elke Reinhardt-Becker (Hg.). Liebesgeschichte(n). Identität und Diversität vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2019, S.34.
14 Gruenter, Undine. Der Autor als Souffleur. Journal 1986–1992. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995, S.47.
15 Wenigstens eine Paarkonstellation, die ebenfalls in der Tradition solch symbiotischer Imaginationen steht, sparen EVA & ADELE in ihrem Figurenrepertoire allerdings aus: Auch die Beziehung von Mutter und Kind ruft immer wieder Spekulationen über ihre quasi-metaphysische Verbundenheit als unio mystica auf den Plan, doch haben die KünstlerInnen ein derartiges Narrativ nie in Anspruch genommen.
16 Zwar gilt ihre Hochzeits-Performance, die 1991 während der Metropolis-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius Bau stattfand, gemeinhin als Startschuss ihrer Karriere, tatsächlich liegt der der erste gemeinsame Auftritt noch im Vorjahr auf Biennale di Venezia. Ganz untypisch für ihre spätere Erscheinung präsentierten sie sich hier noch in streng geschnittenen, schwarzen Kostümen. Berlin bekam sie noch einmal in ihren strahlend weißen Kleidern zu Gesicht, doch von da an übernahm endlich jenes Rosa die Oberhand, das seitdem ihr Markenzeichen ist.
17 Klinggräff, Fritz von. Sind Sie Nutte? EVA & ADELE verzaubern Weimar, die Kulturstadt. In taz, 14./15. 8. 1999. Zitiert nach Kampmann, Sabine. Gender Identity and Authorship. EVA & ADELE – Just about „over the boundaries of gender“ Online: http.://www.evaadele.com/texts/kampmann2deutsch.html (24.08.2021)

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